Elspeth Probyn
Scham Schreiben
Deutsch von Dagmar Fink und Birgit Mennel für gender et alia
in: Affekt und Geschlecht. Eine einführende Anthologie. Angelika Baier, Christa Binswanger, Jana Häberlein, Yv Eveline Nay, Andrea Zimmermann (Hg_innen). Wien: zaglossus, 2014, S. 321-354 [Auszug]

Ich entwickelte zum ersten Mal Sympathien für Charles Darwin, als ich über den schrecklichen Tribut las, den seine Forschung und sein Schreiben dem Vernehmen nach seinem Körper abverlangten. Offenbar durchlitt er lange Anfälle von Übelkeit, während derer er sich kontinuierlich erbrach, Durchfall hatte und ans Bett gefesselt war. Er glaubte an das, was wir heute alternative Heilmethoden nennen, insbesondere an Hydrotherapie, die manchmal gut bei ihm anschlug.

Ich dachte über Darwin nach, als ich, zwischen Wachen und Denken, die Gegenwart von etwas furchtbar Drückendem empfand. Ach ja, das Buch. Und dann würgte ich. Das passierte wieder und wieder, während ich über meine Situation grübelte. Ich hatte keinen großen Stress. Ich hatte ein Forschungsfreisemester und war weit weg von den Belastungen meines Arbeitsalltags. Ich musste lediglich ein Buch schreiben, überarbeiten und nochmals überarbeiten. Ich versuchte, diese unbedeutende Routine, die mein Körper entwickelt hatte, zu ignorieren. Dies zeitigte jedoch keine Wirkung, mein Körper bestand darauf, dass ich ihm Beachtung schenke. Ich ging noch einmal durch, was sich abspielte. Wenn ich mich ins Bett legte, schlief ich tief und fest, scheinbar ohne zu träumen. Beim Aufwachen bemerkte ich jedoch, dass meine Hände und Füße schmerzten. Mir wurde klar, dass mein Körper während der Nacht Verrenkungen machte: Meine Fäuste ballten sich, meine Füße spannten sich an und ich knirschte mit den Zähnen.

Ich hielt meinem Körper eine ernste Standpauke, doch er wollte nicht auf die Stimme der Vernunft hören. Meiner Ansicht nach war es schlicht der Druck des Abgabetermins, der mich krank machte. Ich musste einfach nur das Manuskript fertigstellen, bevor es mich fertig machte. Eine Freundin, die sich von meiner praktischen Logik nicht überzeugen ließ, machte sich Sorgen angesichts meines sich verschlechternden Gesundheitszustandes. Sie hatte zu Gewalt, Scham bzw. Schande und Ehre bei jungen Männern geforscht.ii Und sie wies mich kurzerhand auf etwas hin, das ich selbst hätte wissen müssen: Es ist schmerzhaft, über Scham zu schreiben. Es ergreift den Körper. Es setzt dir zu.

Natürlich ist es schmerzhaft, über Scham zu schreiben: Die Intimität des Selbst wird öffentlich zur Schau gestellt. Was ich fühlte, war jedoch nicht wirklich die Beschämung der Zurschaustellung. Mich trieb etwas anderes um. Möglicherweise wird ein_e zu_r Hypochonder_in, wenn sie_ zu viel über Affekt liest. Auf jeden Fall wird die körperliche Wirkung unterschiedlicher Affekte viel bewusster. Aufgrund der äußeren Anzeichen entschied ich, dass mein Körper nicht wirklich Beschämung zum Ausdruck brachte. Was mein_e Ärzt_in als Kampf-oder-Flucht-Reaktion bezeichnete, war dem näher, was Silvan Tomkins Angst-Schrecken nennen würde (Sedgwick/Frank 1995b: 35). Ja, das war es, was ich fühlte: Das Ballen der Fäuste, das Zusammenbeißen der Zähne, das Verrenken und Anspannen der Füße. Mir dämmerte, dass ich Angst davor hatte, der Bedeutung meines Themas nicht gewachsen zu sein. Der Gedanke, dass ich bei den Leser_innen kein Interesse wecken würde, löste etwas aus, das eine Mischung aus Angst und Scham zu sein schien.

Es ist beschämend, ein großes Interesse an etwas zu haben und nicht in der Lage zu sein, dieses anderen zu vermitteln, bei ihnen dasselbe Maß an Interesse zu wecken und sie davon zu überzeugen, dass dieses Interesse gerechtfertigt ist. Schreiben birgt immer das Risiko, dass es nicht gelingt, bei den Leser_innen Interesse oder Aufmerksamkeit zu wecken. Sollte ich nicht wirklich die richtigen Worte finden oder das Argument nicht vermitteln können, droht mir, von mir selbst enttäuscht zu sein. Vereinfacht gesagt besteht die Herausforderung darin, das Schreiben dem Thema anzupassen, über das geschrieben wird. Die Kluft zwischen beiden kann das Gefühl hervorrufen, ein_e Schwindler_in zu sein, oder wie ich hier argumentieren werde, sie kann eine tiefempfundene Beschämung zur Folge haben. Lynn Barber, eine Journalistin, die einige der bedeutendsten Autor_innen unserer Zeit interviewte, beschreibt Ersteres. Während sie über ihr Interview mit dem äußerst produktiven Essayisten Christopher Hitchens nachdenkt, macht Barber ein unter der Oberfläche liegendes Gefühl aus: „Vielleicht ist sein Gefühl der Hochstapelei eines, das alle Autor_innen empfinden: nämlich, dass es ihnen mehr ums Schreiben als um ihr Thema geht“ (Barber 2002: 10).

Indem sie es als Hochstapelei bezeichnet, beschreibt Barber dieses Problem mit Begriffen, die vom eher Geringfügigen zum Schwerwiegenden abzudriften drohen. Hochstapelei impliziert, etwas zu erfinden, während ein_e sich hinter der Maske der Kompetenz verbirgt. Scham und Schande stammen etymologisch vom mittelhochdeutschen Wort scham(e), das sich auf das Verbergen des Gesichts bezieht. Das wesentliche Element, das den Schwindel in Scham verwandelt, ist das Ausmaß des Interesses oder Begehrens. Wenn es mich nicht kümmert, was andere denken oder was ich selbst denke, ist es nicht beschämend, ein_e Schwindler_in zu sein. Wenn es mich jedoch kümmert, wird die Scham zur Bedrohung. Wenn mir das, was ich schreibe, sehr wichtig ist, wird der Körper im Bereich der Scham verortet: völlig von mir selbst enttäuscht zu sein, wird auf ein schmerzhaftes Niveau gesteigert.

Meine Ausführungen hier beschäftigen sich mit Scham Schreiben, einer Formulierung, mit der ich das affektive, körperliche Gefühl, einem Interesse nicht gerecht zu werden, ebenso zu fassen versuche, wie die Art und Weise, wie wir uns Scham als Teil einer ethischen Praxis vorstellen können. Scham zwingt uns, die Folgen unseres Schreibens ständig zu reflektieren. Die Einblicke, die uns verschiedene Autor_innen gewähren, werden zeigen, dass Scham Schreiben aus dem Bauch heraus dazu gemahnt, dem eigenen Interesse treu zu bleiben und ehrlich zu sein, warum ein_e sich für gewisse Dinge interessiert oder worin dieses Interesse besteht. Die Autoren, auf die ich mich konzentriere, kommen aus sehr unterschiedlichen Bereichen: Es sind ein Romanautor, ein Zeuge und Opfer von Gräueltaten sowie ein Philosoph. Selbstredend unterscheiden sich die Zielsetzungen ein_er Prosaschriftsteller_in von den Zielen ein_er wissenschaftlichen Autor_in. Grob gesagt: Wenn ich etwas erfinde, ist es dann von Bedeutung, dass mich mein Schreiben mehr interessiert als mein Thema? Und warum sollte ich mich umgekehrt als wissenschaftlich_e Autor_in überhaupt mit dem Schreiben beschäftigen anstatt mit „Ideen“? Die Einsichten von Autor_innen wie Stephen King, Primo Levi und Gilles Deleuze bringen diese Unterschiede zum Verschwinden. Beispielgebend für ein Schreiben über Scham und auch Schande, erörtern sie die Notwendigkeit der Bescheidenheit sowie das, was wir vom beschämten Körper über das Schreiben lernen können. Vor allem aber erteilen sie eine Lektion über das Schreiben ohne etwas vorzutäuschen. Sie alle kommen nicht umhin, den Tribut zu zollen, den das Schreiben dem Körper abverlangt. Den extremsten Fall, nämlich die Geschichte von Auschwitz niederschreiben zu müssen, beschreibt Levi als „Bedürfnis“, das „zu einem so unmittelbaren und drängenden Impuls angewachsen [war], dass es den übrigen elementaren Bedürfnissen den Rang streitig machte“ (zitiert nach Ginzburg 2013: 75). Wenn es schockiert, Levi in Gesellschaft eines populären US-amerikanischen Autors und eines französischen Philosophen zu sehen, sollte erinnert und auch gefeiert werden, dass das Schreiben Levis große Leidenschaft war, eine Liebe, der er sich unabhängig vom Zeugnisablegen zuwandte. Levi war all jenen ein Beispiel, die danach streben zu schreiben.

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