Wie gleich einem Blatt
Ein Gespräch mit Donna Haraway, geführt von Thyrza Nichols Goodeve
übersetzt von Dagmar Fink und Susanne Lummerding (gender et alia)
in: Gerfried Stocker, Christine Schöpf (Hg.), ars electronica festival `97:
FleshFactor. Informationsmaschine Mensch.
Wien, New York: Springer Verlag 1997, S. 46-69 [Auszug]

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Genetischer Fetischismus

TNG: Könnten Sie den Unterschied zwischen „Leben“, so wie Sie den Begriff im Buch [Modest_Witness@Second_ Millenium.FemaleMan©_Meets_Oncomouse™] verwenden, und Sarah Franklins Begriff des „Lebens selbst“ erklären. Sie unterscheiden „Leben“ als entwicklungsbezogene, organizistische Zeitlichkeit vom „Leben selbst“, jener Zeitlichkeit, die in die Verbesserung von Kommunikation und Neugestaltung von Systemen eingebettet ist. Worin besteht der Unterschied?

DH: Es gibt eine Art „Stafette“ von Foucaults Vorstellung von der Entwicklung des Konzepts „Leben selbst“ zu Sarah Franklin, die diesen Begriff im Kontext des Diskurses um das Meister-Molekül-Gen aufgreift, bis hin zu meiner Übernahme des Begriffs von Sarah, wobei ich sowohl Foucaults als auch Franklins Bedeutungsebenen benutze und meine eigenen hinzufüge.

TNG: Wenn ich also „Leben selbst“ lese: Was soll ich damit verbinden?

DH: Ich benutze den Begriff, um auf eine Art der Buchstäblichkeit zu verweisen, auf Bestrebungen, die prozessualen Beziehungen der Natur/Kulturwelt zu einem fixen Code oder einem fixen Programm zu machen. Leben, das eingeschlossen, fixiert und zu einem bestimmten Fetisch gemacht wird — zu jenem vierteiligen Fetischismus, den ich in ‚Modest_Witness’beschreibe. Ich betone den Fetischismus, der der Erforschung des „Lebens“ inhärent ist, indem ich mich auf sämtliche Marxsche Analysen der Warenförmigkeit beziehe, mit all ihrer Umheimlichkeit. Fetischismus ist kaum als klar fixierter, unproduktiver Prozeß zu bezeichnen. Warenfetischismus hat erstaunlich kreative Aspekte. Und in der Genetik spielt der Warenfetischismus ganz offensichtlich eine Rolle. Aber mich haben auch andere Aspekte im Zusammenhang mit dem Gen-Fetischismus interessiert, bei denen es nicht immer um Warenfetischismus geht. Einer davon war, was ich „kognitiven Fetischismus“ nenne, ein Begriff, den ich auf der Grundlage von Whiteheads Kategorie der „unangebrachten Konkretisierung“ ausgearbeitet habe. Kognitiver Fetischismus beinhaltet, wie andere Arten des Fetischismus auch, einen produktiven Fehler oder eine produktive Fehlverortung. Was im Fall des Gen-Diskurses passiert, ist die Fehlverortung des Abstrakten im Konkreten. Zum Beispiel: Wenn wir von Genetik sprechen, kommt häufig die Idee vom menschlichen Genom als dem „Programm“ der menschlichen Natur ins Spiel. Die Vorstellung von einem „Programm“ beinhaltet einen kognitiven Fetischismus insofern, als das „Programm“ mit dem Ding selbst verwechselt wird. Was hier passiert, ist, daß die Ebenen der Abstraktion und der Verarbeitung, die die Vorstellungen von Code und Programm überhaupt erst hervorbringen, für das Reale gehalten werden.

TNG: Das klingt wie etwas, worauf Roland Barthes in den ‚Mythen des Alltags‘ hinauswollte — eine Art Verschiebung der Ebenen der Zeichenproduktion von Konnotation zu Denotation, wobei das konnotative Zeichen zum Signifikanten in einem neuen System der Artikulation wird — also fälschlicherweise als „Tatsache“ oder Wahrheit verstanden wird (einfach als reiner oder „Ur“signifikant) — und zum Signifikanten einer Wahrheit in einem neuen System wird. Sie sprechen eindeutig über eine wesentlich komplexere Evolution dieses Systems der Semiose.

DH: Kognitiver Fetischismus ist der Prozess der Erzeugung „produktiver Buchstäblichkeit“, Netzwerke von Buchstäblichkeiten, die ich aufzuzeigen und auf die ich zu reagieren versuche.

TNG: Ist es das, was Sie im Teil 3 ihres Buches, ‚Pragmatics: Hypertext in Technoscience‘, meinen, wenn Sie schreiben „Pragmatik ist die Physiologie der Semiotik“?

DH: Ja — das ist die Art der Buchstäblichkeit—oder der Konkretisierung von Bedeutung in Physiologien der Bedeutung, die ich aufbrechen will.

TNG: Oder aufschneiden — die chirurgische Metapher läßt sich hier anwenden. Derartige Analysen scheinen heute selbstverständlich, wenn wir einen Filmtext oder eine Werbung analysieren. Der Unterschied hier ist jedoch, daß Sie über ein Gen sprechen, dessen Wert mißverstanden oder am falschen Ort lokalisiert wird, als „Essenz des Codes des Lebens“, die es zwar ist, die aber auch als innerhalb des Kontextes einer Art kulturellen Petrischale wachsend gesehen werden muß.

DH: Ja. Und zusätzlich greife ich alle möglichen Sorten von ideologischem Zeugs heraus — wovon einiges sehr langweilig und traditionell und immer noch sehr wirkungsmächtig ist — unverhohlene, klare Vorstellungen von Meistermolekül und Einzelelternschaft, die sich durch das Gen und all diese Dinge hindurchziehen. Aber das ist ein ziemlich eindeutiges ideologisches Verfahren. Es ist jedoch ein ideologisches Verfahren, das seine Wurzeln in den grundlegenden diskursiven Hervorbringungen des Gens in Form von „Leben selbst“ in einem buchstäblichen Sinn hat.

TNG: Wie würden Sie ein Gen definieren? Oder würden Sie das überhaupt tun?

DH: Ein Gen ist ein Knotenpunkt innerhalb eines Feldes von Beziehungen. Es ist eine materiell-semiotische Entität, eine Konkretisierung, die Vererbung ‚lokalisiert‘ (lokalisieren im Sinne von auf einer Karte verorten) und ’substantialisiert‘. Die Genetik ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, die viele Phasen hat, so daß wir Ende des 20. Jahrhunderts eine tiefgehende, detaillierte Kenntnis der molekularen Basis der Vererbung haben. Aber diese Moleküle — die DNS-Moleküle — funktionieren nie isoliert. Sie funktionieren immer in Interaktion mit anderen Zellstrukturen. Die verbreitetste Art, das zu beschreiben, ist, daß die kleinste Einheit des Lebens die Zelle und nicht das Gen ist. Aber das Gen interagiert ständig mit diesen zellularen Historien. Es ist immer am Werden, dennoch — und das ist der Punkt — sprechen wir darüber, als wäre es bloß ein simples, konkretes Ding.

TNG: Mit anderen Worten: Das Gen ist ein „Subjekt im Werden“. In Ihrer Beschreibung der Genetik höre ich wieder die Art, in der Sie schreiben und arbeiten, heraus; wie Sie es angehen, Kultur zu analysieren, nämlich durch eine Art genetischer analytischer Modellierung der Kulturanalyse statt einfach umgekehrt — durch eine Kulturanalyse der Genetik.

DH: Das stimmt. Ich denke, daß die Analyse dessen, was „Natur“ genannt wird, und die Analyse dessen, was „Kultur“ genannt wird, dieselben Formen des Denkens aufrufen, denn das, was mich am allermeisten interessiert, sind „Naturkulturen“ — als ein Wort — Implosionen der diskursiven Reiche von Natur und Kultur. […]

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