Allan Sekula
Zwischen dem Netz und dem tiefen, blauen Ozean.
Den fotografischen Bildverkehr neu überdenken
übersetzt von Dagmar Fink und Doro Wiese (gender et alia)
in: Jean Back und Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.):
The Family of Man 1955-2001. Humanismus und Postmoderne:
Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung,
Marburg: Jonas Verlag 2004, S. 140-186 [Auszug]
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2. Teil: Irrationale Überschwänglichkeit
Wenn wir an die Landschaftsbilder und Seestücke vor hundert Jahren zurückdenken, sehen wir mit Winslow Homer eine tiefgreifende US-amerikanische Hinwendung zur See, die mit einem aufblühenden imperialen Projekt in Einklang steht, aber ebenso mit US-amerikanischer Rastlosigkeit und US-amerikanischem Idealismus, deren frühere literarische Beispiele Hermann Melville und Richard Henry Dana sind. (7) Denken Sie an D. W. Lawrences Einschätzung aus dem Jahr 1923, als er auf diese beiden seefahrenden Schriftsteller der ‚amerikanischen Renaissance‘ in den 1840er und 1850er Jahre zurückblickt. Für Lawrence hatte die US-amerikanische Literatur keinerlei traditionsgebundenes Gefühl für Blut und Boden, so dass sie das repressive Erbe feudaler Landrechte und den Morast des europäischen Nationalismus vermeide. (Indem er sich Schriftsteller aussuchte, deren wichtigste Arbeiten vor dem Abschlachten des Bürgerkriegs geschrieben worden waren, vermied Lawrence gegenteiliges Beweismaterial, obwohl seine Argumentation es implizit erlaubte, für abstrakte Prinzipien in den Krieg zu ziehen.) Lawrence Einsicht in die US-amerikanische Literatur und die See fand später bei Gilles Deleuze und Felix Guattari ein Echo, die davon sprachen, dass die See Melville eine Fluchtlinie anbiete, so wie Lawrence, Romantiker einer früheren spätromantischen Generation, in der Leidenschaft für die See einen Ausdruck des demokratischen Idealismus sah, eine utopische Sehnsucht nach der perfekten Welt.(8) Lawrence, ein geheimer Aristokrat, verspottete Danas Empörung über das Auspeitschen von Seeleuten. Es bedurfte eines weiteren amerikanischen Schriftstellers, des Dichters Charles Olson, um eine Gegenlektüre über die Verbindung zwischen der See und der US-amerikanischen Geschäftszivilisation zu entwickeln und Melville als kritischen Propheten dieser Verbindung zu sehen: „So if you want to know why Melville nailed us in Moby-Dick, consider whaling. Consider whaling as FRONTIER, and INDUSTRY. A product wanted, men got it: big business. The Pacific as sweatshop.“(9)
So schrieb Olson im Jahre 1947, ein Jahrhundert zurückblickend, um Melvilles Radikalität mit erneuertem Vorherwissen wieder zu beleben, denn die kapitalistische Entwicklungslinie war noch nicht von den pazifischen Ausbeuterbetrieben des Walfangschiffs und der Kopraplantage zu den Fließbändern der Computer-, Klamotten- und Spielzeugindustrien gezogen worden, oder zu den modernisierten Formen der Leibeigenschaft (i.O. indentured servitude, historisch eine Form der Leibeigenschaft auf Zeit, welcher sich MigrantInnen aus Europa für die Überfahrt unterwarfen, A.d.Ü.) an Bord der auf Container umgestellten Schiffe, die diese Produkte auf den Markt bringen.
Doch was kann Winslow Homers modernes, aber noch nicht der Moderne zuzurechnendes Gemälde für Herrn Bill Gates von Microsoft bedeuten und was für die gesichtslose virtuelle Macht, derer er sich rühmt? Der Sinn des Information Highways besteht gerade darin, niemals orientierungslos zu sein. Technische Befehle verlangen eine unablässige Orientierung innerhalb der weltweiten Matrix der Informationsflüsse. Mit Hilfe seiner 1989 gegründeten Agentur Corbis will Gates alle Bilder auf der Welt durch Reproduktion sammeln. Das ist eine besitzergreifende und profitgierige Ambition, er versucht, den Handel mit Bildern zu kontrollieren, und hierzu reichen Reproduktionsrechte aus. Wie dem auch sei, bestimmte Bilder will er im Original besitzen. Welchen Status haben diese ausgesuchten Gemälde mit ihrer Aura der Einzigartigkeit und ihrer direkten Verbindung zur KünstlerInnenhand, verglichen mit dem größeren Archiv dieses cyber-ikonografischen Allesfressers? […]