Arlene Stein
(Staats-)BürgerInnenschaft oder deren Überschreitung?
Dilemmata der US-amerikanischen Lesben- und Schwulenbewegung
übersetzt von Dagmar Fink und Elke Koch (gender et alia)
in: quaestio (Hg.), Nico J. Beger, Sabine Hark, Antke Engel, Corinna Genschel, Eva Schäfer:
Queering Demokatie. Berlin: Quer Verlag 2000, S. 143-156 [Auszug]

Zu einer neuen Sprache sexueller Differenz
In den USA ist es klar, dass wir eine neue Sprache, eine neue Art und Weise des Sprechens über Sexualität brauchen — und zwar eine, die deren „unordentliche“ Komplexität erfassen kann. Wir brauchen eine neue Art und Weise, in der wir über uns selbst sprechen und über unser Verhältnis zur dominanten Kultur. Und diese Art und Weise muss über das ethnische Modell hinaus gehen. Der gewagteste Versuch in diese Richtung ist unter der Rubrik „queer“ aufgetaucht, ein Versuch, alle sexuellen DissidentInnen – einschliesslich bisexueller und Transgender-Personen und sogar einiger Heterosexueller – zusammenzufassen, um dafür zu kämpfen, unsere Definition dessen, was als „normal“ gilt, zu erweitern. Statt unsere Sexualität im Austausch für das hohle Versprechen gesellschaftlicher Akzeptanz im Verborgenen zu halten, stellen queere TheoretikerInnen und AktivistInnen binäre, begrenzte Vorstellungen von Sexualität in Frage. Aufgrund ihres dichten Vokabulars ist es jedoch schwierig, die Queer Theory einem nicht-elitären Publikum zu übersetzen und nahe zu bringen. In einer Unterhaltung mit meiner Mutter, die keine College-Ausbildung hat und die immer noch glaubt, dass mein Lesbianismus irgendwie ihr Fehler sei, komme ich mit Queer Theory nicht weit! Und Queer Theory löst auch sicher nichts bei den Menschen aus, mit denen ich im kleinstädtischen Oregon rede. Menschen, die zwar zum Großteil queere Personen nicht direkt hassen, sich aber trotzdem nicht erklären können, warum Homosexualitäten unter den Schutz des Gesetzes gestellt werden sollten.

Wir haben es also in den USA mit einer lesbisch-schwulen Bewegung zu tun, die zwei unterschiedlichen Impulsen folgt: dem Wunsch nach BürgerInnenschaft [citizenship] und dem Wunsch nach Überschreitung, wie Jeffrey Weeks das so treffend formuliert hat. Wir haben eine BürgerInnenschafts-Bewegung [citizenship movement], die nach dem Schutz der BürgerInnenrechte trachtet und dabei ein ethnisches Verständnis von Homosexualität anwendet, das Lesben und Schwule als eine fixe Kategorie vorstellt, die keine Herausforderung der Heteronormativität darstellt. Und wir haben eine weitere, wesentlich kleinere Bewegung an den Rändern dieser Bewegung, die ein sehr viel nuancierteres Verständnis von Sexualität hat, aber Schwierigkeiten, sich selbst der Öffentlichkeit darzustellen. Eine Politik der BürgerInnenschaft [citizenship] sucht den Einschluss in die gesellschaftliche Ordnung, die Politik queerer Überschreitung fordert gerade die Grundlage, auf der BürgerInnenschafts-Rechte [citizenship rights] vorgestellt werden von Grund auf heraus. Erstere betont den Kampf um Gleichheit (wir sind genauso wie ihr und wir wollen die gleichen Rechte), letztere betont die Differenz (wir sind hier, wir sind queer, gewöhnt euch dran). Erstere behandelt die homo/hetero-Trennung als Gegebenheit und geht der Aufgabe nach, beide Seiten gleichzustellen. Letztere will die Trennung selbst attackieren.

Diese zwei Impulse, BürgerInnenschaft [citizenship] und Überschreitung, gibt es seit Beginn der lesbisch-schwulen Bewegung. Wahrscheinlich charakterisieren sie alle Bewegungen, die auf Identitäten basieren. Doch während wir uns dem Ende des Jahrhunderts nähern, scheint die lesbisch-schwule Bewegung in den USA mehr denn je in diese zwei Lager gespalten zu sein. Es hat zunehmend den Anschein, dass diese Lager aneinander vorbei arbeiten. In der Öffentlichkeit scheinen queere Bemühungen, die Heteronormativität herauszufordern meistens eher den weit verbreiteten Glauben, dass wir auf essentielle, unwiderrufliche Weise verschieden sind zu verstärken, als gerade die Grundlage dieser Differenz zu unterminieren. Doch dank der grösseren finanziellen Schlagkraft von schwullesbischen Mainstream-Organisationen hat eine sehr konservative Vorstellung von Homosexualität im öffentlichen Umkreis Aufschwung. […]

Aber in unserem Kampf geht es um viel mehr als das Recht, Ebenbild heterosexueller Normalität zu sein. In unserem Kampf geht es um viel mehr als das Recht, in Familienstrukturen integriert zu werden, die verheiratete, monogame Paare auf Kosten der diversen Ansammlungen tatsächlich existierender Familienformen privilegiert. Viele von uns wollen BürgerInnen, ein Teil der gesellschaftlichen Ordnung sein. Wir wollen jedoch zu unseren eigenen Bedingungen Eintritt in diese erhalten. Und wenn wir in dieser Ordnung erstmal drinnen sind, wollen wir an ihr rütteln, sie subvertieren und vorgefertigte Vorstellungen davon, wer oder was normal und natürlich sein soll herausfordern. Keines der beiden vorherrschenden Images lesbischen/schwulen/queeren Daseins, die heute in den USA sichtbar sind – BürgerInnen versus ÜberschreiterInnen – trifft die Art und Weise, in der viele von uns über ihre sexuelle Identität nachdenken – als gleichzeitig traditionell und überschreitend. Das stimmt in einem hohen Ausmaß auch für viele europäische Länder, in denen Queers derzeit für BürgerInnenrechte [citizenship rights] kämpfen und sie teilweise auch erhalten. Queere Menschen werden sich nie über die Bedeutung von Sexualität und wie diese in eine politische Bewegung umzusetzen ist einig sein. Aber es ist an der Zeit, eine Bewegung aufzubauen, die dem Wissen verpflichtet ist, dass wir gleichzeitig Innendrinnen, aber auch AussenseiterInnen sind. Erkennen wir unsere doppelte Position an, kann uns das vielleicht davor schützen, uns entweder den Heteros gleich oder radikal verschieden von ihnen zu sehen. Denn wir sind beides und das ist unsere große Stärke. Anstelle einfach nach Integration zu suchen, oder außerhalb des miserablen Systems zu stehen, müssen wir die Voraussetzungen, unter denen dieses System Familie, Intimität, Gemeinschaft und Gleichheit definiert, herausfordern. Wir müssen die Integration in die gesellschaftliche Ordnung suchen, während wir sie gleichzeitig von Grund auf in Frage stellen. […]

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